Text
Bettina Carl
Einleitung
Nishni
Novgorod
Izhevsk
Jekaterinburg
Samara
Saratov
Ausstellung
Text
Peter Funken
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27.7.
Nach drei Wochen Rußland heute ein Jammerbrief: Dieser unglaubliche
Wille der jungen Frauen und Männer, modisch, schick und gut gekleidet
zu sein, hat seine Ursache vielleicht in den entsetzlichen Bedingungen.
Sozusagen um sich seine Menschlichkeit und Selbstachtung zu bewahren.
Seit zwei Tagen regnet es, und die Bewegung durch die Stadt gleicht dem
Aufenthalt in einem Survivalcamp. Aus irgendeinem unverständlichen
Grunde werden russische Straßen seit je so gebaut, daß das
Wasser nicht abfließt. Bürgersteige in einer Form, die den
Namen verdient, gibt es sowieso kaum. Auch ganz neue verbundgepflasterte
Strecken sind keinen Deut besser. Heißt also ständig springen,
schwimmen, Umwege und Auswege suchen. Schön ist es anzusehen, wenn
10 cm hohe Absätze solches tun.
Und dieser Dreck überall! Viele Leute haben überhaupt kein Verantwortungsgefühl
und kippen ihren Müll wild in die Gegend. Komischerweise sagen dann
aber alle, daß Deutschland so toll wäre, weil so sauber. Früher,
zu Sowjetzeiten, war es wohl auch ordentlicher, da gab es immer irgend
jemanden, der alles weggeräumt hat. Jetzt dagegen will man sich in
den ohnehin spärlichen Grünanlagen eigentlich nicht niederlassen.
Vielleicht trinken die Menschen deshalb hier im Stehen, wenn sie sich
draußen treffen. Liegende werden gern als Suffis angesehen.
Oder die Ausschilderung der Straßen: Manchmal gibt es sie, aber
eben nur manchmal. Und so eine einfache Sache wie den Berliner Pfeil unter
der Hausnummer, der anzeigt, in welcher Richtung die Zahlen ansteigen,
lerne ich hier richtig schätzen. So kleine Dinge, die das Leben leichter
machen. Hier dagegen steht man irgendwo in der Pampa, zwischen den einzelnen
Häusern können schon mal hundert Meter liegen, die Häuser
selbst haben auch gigantische Ausmaße, und dann die Frage: WOHIN???
Um Himmels willen?? Und wenn dann mal irgend jemand seinen wichtig-rasenden
Lauf durch die Stadt unterbricht, um einer Frage wenigstens zuzuhören,
sollte man vor Glück eigentlich schon eine Flasche Sekt köpfen.
Was nicht heißt, daß die Menschen nicht unglaublich freundlich
und bemüht sein können, wenn sie einen erst mal bemerkt haben.
Und die Straßen selbst: Ampeln gibt es häufig nur für
Autos, Fußgängerüberwege werden aus Prinzip mißachtet,
Passanten von erbarmungslosen Wolgas gejagt wie Hasen. Da russische Straßen
gern sechsspurig sind, kann so eine Überquerung schon ein mittleres
Abenteuer werden. Und wo sie schmaler sind, existieren natürlich
Pläne zu ihrer Verbreiterung, um den Stau zu bekämpfen. Die
Menschen hier scheinen immer noch diesem Sechziger-Jahre-Zukunftsglauben
anzuhängen: Technik, Autos, Geschwindigkeit sind alles. Alte Häuser
werden mit Vergnügen abgerissen, um neue Blocks bauen zu können.
Fortschritt ist toll, wie auch immer dieser aussehen mag. Und so ist das
überall. Da haben die Städte nun 70 Jahre Kommunismus überstanden,
keinen Krieg gesehen hier im Osten, doch der russische Ellenbogenkapitalismus
macht alles Alte zunichte. Und alle Städte gleich. Eigentlich sind
sie nur vom Auto aus zu ertragen.
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